Mittwoch, 2. September 2015

Meine Leihoma, die 62-Jährige Bungee-Springerin

Frauenschicksal Nr. 3 ist nun mal ein positives.

Generell möchte ich nicht, dass meine Reisenotizen allzu negativ klingen. Ich würde nicht vier Wochen in Russland verbringen, um mich dann nur darüber auszulassen, was dort schlecht funktioniert, wie schlecht es manchen geht und welches gehirngewaschene Geschichtsbild viele Leute hier haben (das westliche ist ebenfalls nicht die absolute Wahrheit, aber wenigstens glaubt da keiner, die Sowjetunion sei eigentlich ein großer Wohltäter für die undankbaren Nationen Mittel- und Osteuropas gewesen).

Mir gefällt es hier sehr gut, sonst wäre ich nicht hergekommen. Ich möchte aber das ganze Bild sehen, und da gibt es erstens in jedem Land tolle und weniger tolle Dinge, und zweitens finde ich es langweilig, den hundertsten Reisebericht mit schönen Landschaftsfotos vom Baikalsee zu schreiben. Bessere Landschaftsfotos als meine lassen sich so oder so einfach im Internet finden.

Damit zusammenhängt mein Empfinden, dass ich es unverantwortlich finde, wenn Leute einfach in den Urlaub fahren und sich dort dann abgesehen vom guten Essen und den schönen Landschaften überhaupt nicht für das Land, die Menschen und dessen Probleme vor Ort interessieren (Probleme, die sehr oft auch durch den Tourismus ausgelöst werden (siehe Thailand (Prostitution, Umweltverschmutzung), Bali (Wassernot, aber Touristen planschen in Pools) oder Barcelona (überteuerte Wohnungen für Einheimische und unerträglicher Lärm durch Party-Touristen)). Ja, Urlaub ist zur Erholung da, aber man kann sich trotzdem nicht einfach aus der Verantwortung stehlen, die man auch als Erholungstourist mitbringt.

Gut, also zu Tamara, meiner AirBnB-Gastgeberin in Irkutsk. Tamara ist Anfang 60. Ihr Mann hat wie so oft schon früh das Weite gesucht, die Kinder sind ausgewachsen und ausgezogen. Sie selbst lebt in einer ruhigen, bequemen, sauberen Wohnung nahe dem Bahnhof von Irkutsk. Durch eine Freundin aus England, die eine Weile in Irkutsk lebte, kam sie auf AirBnB. Die Anzeige, die Fotos und den Text hat ihr noch die englische Freundin eingerichtet, seither hat sie regelmäßig Gäste aus aller Welt, die sie für einen Spottpreis beherbergt. Da sie die Wohnung als Belohnung für ihre Arbeit im hohen, noch eisigeren Norden erhalten hat, zahlt sie keine Miete und müsse nicht mehr verlangen. Es mache ihr einfach Freude, die Gäste und ihre Geschichten kennenzulernen und ihnen zu helfen.


Tamara und ihr Bekannter, der mich mit seinem Laster an den Baikalsee brachte
Zwar spricht sie kein Englisch, dank ihrem topmodernen Smartphone (rührend die Geschichte, wie sie sich nach vielen Zweifeln entschied, sich auch mal was zu "gönnen", da sie wie viel russische Mütter vor allem gibt und fast nie nimmt) und der dortigen Google Translator App kann sie sich auch mit Nicht-russischsprechenden Gästen verständigen. Bei allem, was sie tut, lächelt sie und strahlt eine Herzlichkeit und Zufriedenheit mit dem Leben aus, wie man sie selten sieht.

Sie holt ihre Gäste persönlich vom Flughafen oder Bahnhof ab, das sogar zu später Stunde - bei mir war es Mitternacht (da mein Flug aber deutlich früher gelandet war als geplant (wahrscheinlich habe ich einfach den Zeitzonenwechsel zwischen Chabarowsk und Irkutsk nicht berücksichtigt), bin ich selber zu ihr gefahren).

Als Gast in ihrer blitzsauberen Wohnung bekommt man nicht nur Bett und Dusche, sondern auch so viele Mahlzeiten, wie man sich nur wünscht. Zum Frühstück am ersten Tag gab es zum Beispiel unter anderem fantastische Blinchiki (eine Art Omelette), am letzten Tag noch leckerere Galuschki (Mehlklöße mit Marmelade und Sahne), und ihren fantastischen grünen Tee macht sie nach einem alten Rezept. Stolz zeigt sie einem ihre Schweizer "Zepter"-Küchengeräte und - die italienische Espressomaschine. Aus ihrer Datscha bringt sie Tomaten, Gurken und anderes Gemüse in Massen mit und macht daraus köstliche Salate. Aus dem Sanddorn einen gesunden, süßen Saft, von dem sie mir zum Abschied zwei Flaschen mitgegeben hat.

Frühstücks-Rührei mit Schinken, Zucchini und anderen Gemüsen aus der Datscha
selbstgemachter Sanddornsaft
Pflaumen und Warenie (eine fast flüssige Art Marmelade)

Ich vergaß den Namen, aber ich nenne es mal Zucchini-Rösti mit Smietana (russische Art Sahne)

Simples, aber leckeres Mahl inklusive den unvergleichlichen russischen Gurken
Aber mit der Bekochung nicht genug - auch Tipps für den Baikalsee (der Grund, weshalb die meisten nach Irkutsk kommen) hat sie en masse - Wanderungen, Eisenbahnfahrten etc. Dank ihr bekam ich den Kontakt zu einem ihrer zahlreichen Freunde, der zur Fähre auf die Insel Olchon fuhr und von mir lediglich die Benzinkosten verlangte.

Tamara war vor nicht allzu langem sogar Bungee-Springen. Überrascht hat sie mich auch mit ihrer Geschichte vom Wildwasser-Rafting, wo sie mit ihrer Freundin zunächst in einem sicheren Schlauchboot für Touris saß und fast nicht nass wurde. Dann protestierte sie, sie wolle bitte genauso wie die Rafter dort mit dem Kopf unter Wasser und wild den Fluss hinunterfahren, sie hätte nicht dafür bezahlt, nur ein paar Tropfen abzubekommen. Der Tourleiter gab schließlich nach und ließ die beiden rüstigen Damen auf eine richtig wilde Tour umsatteln...

Sie habe die westeuropäischen Gäste am liebsten, nur zwei Deutsche seien mal etwas arg anspruchsvoll gewesen (wen wundert's?), hätten Beratung zu diesem und zu jenem verlangt und ihr sehr viel Aufwand verursacht. Trotzdem hätten sie sich hinterher sogar noch beschwert, man hätte sich doch mit der Auswahl des (kostenlosen!) Essens abstimmen können.

Mit den Chinesen und Koreanern kommt sie auch gut aus, aber da seien manchmal die kulturellen Unterschiede doch sehr groß. Sie wüssten manchmal nicht, dass man zum Duschen den Vorhang auf die Innenseite der Wanne ziehen müsse und machten so aus dem Bad ein Schwimmbad. Auch die Koreaner, die auf einmal morgens um 6 begannen, mit selbst mitgebrachtem Küchengerät einfach im Gästezimmer zu kochen, musste sie erst darüber aufklären, dass das nicht ganz so angemessen sei.

Das seien aber extreme Ausnahmen. Insgesamt sei sie glücklich, so viele interessante Gäste zu haben. Mit einem Schweizer Gast ist sie nun auch auf Odnoklassniki (Social Network) befreundet und chattet dort regelmäßig mit ihm. Da er auch in Zürich wohnt, soll ich ihm nun den Tee mitbringen, der ihm bei ihr immer so gut geschmeckt hat. :)

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