Mittwoch, 2. September 2015

"In meiner Geburtsurkunde steht ein Vater, den es gar nicht gibt"

Dieser Post handelt von einem Abend in einer dieser grauen, traurigen Kleinstädte Russlands, aus denen ähnlich wie in Ostdeutschland oder Polen immer mehr Leute fortziehen, weil ihnen die Perspektive fehlt. Meine Gastgeberin dort ist Kristina, die Freundin eines Freundes, den ich über eine Freundin eines Couchsurfers in einer ganz anderen Stadt kennengelernt habe. Um welche Stadt es geht, werde ich aus Privatsphäregründen nicht schreiben. Es ist auch egal. Ich verwende im Artikel auch Fotos aus verschiedenen Städten, die aber eine ähnliche Stimmung ausdrücken. Jedenfalls hat mir der indirekte Freund ihren Kontakt gegeben, als ich ihm erzählt habe, dass ich in diese Stadt fahren wollte, damit ich dort jemanden habe, bei dem ich übernachten kann.


Ich bin völlig gerädert nach einer Nacht in der Wohnung von Kristina und ihrer Mutter - sehr hell am Morgen, weil die Gardinen wegen des gerade seit mehreren Tagen laufenden Fensterwechsels rausgenommen worden. Es ist staubig und ungemütlich, weil alle Möbel zur Seite geschoben wurden. In der Wohnung fehlt sichtlich das Geld, die Schränke hängen schief ineinander, die Türen gehen entweder nicht richtig zu oder nur mit starkem Druck auf. Als ich ins Bad gehe und die Tür schließen will (ich schwöre, ich habe sie ganz normal zugezogen!), reiße ich den Türgriff ab und brauche 20 Minuten, um den wieder so anzubringen, dass ich die Tür öffnen und mich befreien kann.

Gestern waren wir auf Wunsch von Kristina noch recht lang unterwegs. "My guljali/мы гуляли" sagt man dann. Guljat' heißt offiziell "Spazieren gehen" - es ist aber viel mehr als das. Das Wort hört man ständig und es ist für mich ein russisches Kulturphänomen. Ständig heißt es: "Komm, gehen wir guljat'!" Oder "Was habt ihr gestern Abend gemacht?" - "My guljali." Das Wort ist perfekt unscharf und kann alles mögliche bedeuten, vom einfachen Spaziergang bis zum feucht-fröhlichen Abend mit Alkohol und Freunden. Letztlich heißt es wohl irgendwie so etwas wie "rausgehen und sich irgendwie amüsieren".

Meine typischen "Guljat'"-Erlebnisse in russischen und ukrainischen Kleinstädten verliefen immer ungefähr so wie in dieser Stadt: Man holt sich im Supermarkt oder Kiosk ein Bier und läuft oder fährt dann hierhin und dorthin, besucht den oder den, holt sich irgendwann noch ein Bier und salzige Kalmar-Schlangen oder anderes salziges Zeug und so weiter.

Wir gingen also zum Supermarkt. Am Eingang treffen wir zwei Freunde. Einer trägt eine lustige Sonnenbrille. Sie fragt ihn, was wohl unter der Sonnenbrille sei, und er zeigt uns sein blaues Auge. Eine Schlägerei, weshalb, habe ich nicht ganz verstanden. Kommentar eines anderen Bekannten aus Vladivostok: Das ist normal, es sei ja ein Junge. Auch meine Gastgeberin erwähnt, sie habe sich auch schon merhfach ein blaues Auge geholt.

Dann gehen wir rein und holen uns zwei Bier und Zigaretten (nicht für mich). Sie nimmt ein Bier der Marke "Bavaria" mit dem passenden Untertitel "Holland Beer" :)).




Da ich hin und wieder "spasibo" sage, wenn Leute mir aus dem Weg gehen oder mit den immer schlecht gelaunten Kassiererinnen kurze freundliche Smalltalk-Gespräche beginnen möchte, sagt sie mir: "Rede mit niemandem. Sag nichts - zu niemandem!" Ich würde sonst noch ausgeraubt, man könne fremden Leuten schließlich nicht trauen. Das wiederholt sie immer wieder: "Rede mit niemandem!"

Sie zeigt mir zuerst den wunderschönen Birkenwald am Stadtrand, später geht es wieder in die Stadt. Irgendwann holen wir uns dann ein zweites und ein drittes Bier, die berüchtigten Kalmar-Schlangen, dann rufen wir man irgendwelche Freunde an und fragen, wo die grad sind (= rumsitzen und rauchen oder andere Drogen nehmen), die sagen: Ja, kommt gerne auch vorbei, bringt aber mindestens noch ein paar Liter Bier mit. Dann kauft man halt noch mal Bier (in einer 2 1/2-Liter-Plastikflasche :)) und geht zu den Kumpels, die irgendwo draußen im Dunkeln auf irgendwelchen Gasrohren (in kalten Gegenden Russlands vielerorts überirdisch) hinter einem Lagerhaus oder ähnlichem sitzen. Die freuen sich über Besuch aus Fernwest und das Bier, man witzelt und trinkt noch ein wenig. So gegen 23 Uhr sagen sie vernünftigerweise, sie müssten jetzt nach Hause, weil sie morgen arbeiten müssten, und man bricht auf. Was positiv auffällt: Diese Jungs sammeln sogar alkoholisiert den Müll ein, so gut man den im Stockdunkeln mit der Handy-Taschenlampe halt noch finden kann.




Nach einem kurzen Besuch zu Hause bei der Mutter entscheidet meine Gastgeberin, dass sie doch noch mal rausgehen möchte. Sie will mir noch ihr altes Schulhaus zeigen. Es folgt ein Spaziergang über lehmige, huppelige Wege voller Schlaglöcher, streckenweise komplett ohne Beleuchtung (dank Smartphone-Taschenlampe knicke ich nirgends um).

Sie erzählt mir Geschichten über die Leute in den Häusern, an denen wir vorbeigehen: "Hier wohnte ein Bauer, der seine Frau umgebracht hat. Mein Opa, er war Polizeiwachtmeister, hat ihn in den Knast gesteckt."

"Da wohnen die Koreaner" (modernes, solide gebautes Haus mit hoher Mauer drum herum inmitten der ganzen improvisierten und zum Teil zerfallenden Bauten).

"Dort hat eine Schulfreundin gewohnt - die arbeitet jetzt als Striptease-Tänzerin in einer entfernten Stadt." Als ich am Vormittag mit dem ranzigen Bus durch die Pampa in die Stadt gefahren war, konnte ich vom Bus aus auf den Wänden einiger Dorfbushaltestellen in riesigen Graffiti-Buchstaben lesen: "trebujetsja djewuschki" ("Mädels gesucht") - darunter eine Telefonnummer. Djewuschka (Mädchen) kann natürlich auch was anderes heißen (evt. auch etwas ganz Simples wie "Kellnerin"), daher möchte ich lieber offen lassen, was das wirklich bedeutet.

Sie zeigt mir die früher besten Häuser, in einem habe ihre Oma gewohnt - wie fast überall riecht es übel im Treppenhaus. Da sie sieht, dass mich das interessiert, zeigt sie mir anschließend noch einige der aller-abgefucktesten Häuser von innen. Man kann hier einfach reingehen, es gibt hier kein "Domofon", das üblicherweise an den bleischweren russischen Stahltüren der Wohnblöcke hängt und einem nur Einlass erlaubt, wenn man einen speziellen Schlüssel hat oder ein Passwort kennt oder wenn natürlich jemand von innen aufmacht. Auch die Eingangstüren zu den Wohnungen sind wie in Polen meist schwere, mehrfach verriegelbare Stahltüren (wenn ich da an meine Wohnungstür aus Milchglas in Zürich denke...).






Sind schon die Berliner Treppenhäuser oft eine Herausforderung in puncto Geruch und Sauberkeit, so sind die meisten russischen Treppenhäuser, die ich gesehen habe, noch mal eine Stufe drüber. Gestank, Schimmel an den Wänden, Rost, Staub, Dreck, oft zerbeulte Briefkästen und so weiter. Die Wohnungen hingegen sind meistens sauber und angenehm eingerichtet. Solange man aber nicht in die Wohnungen hineinkommt, wirken fast alle Wohnblöcke für westliche Augen abstoßend ungepflegt - inklusive der ausgetretenen Trampelpfade mit ihren zerbrochenen Betonplatten und Schlaglöchern um die Blöcke herum. Schon in Polen hat mich dieses Missverhältnis aus Gemeinschaftsfläche (verrottet, verrostet, stinkt, eklig) und Privatfläche (sauber, gepflegt) immer verwundert, waren dies doch früher sozialistische Länder, wo gerade das Allgemeinwohl über das Wohl des Einzelnen gestellt wurde.

Zurück zur Führung durch die kleine Stadt, die seit den 80er Jahren ein Drittel seiner Einwohner verloren hat. Aus irgendeinem Grund vermutet meine Gastgeberin, dass ich ihr Drogen mitgebracht hätte - sie redet von allem möglichen, ich verstehe nur "Mushrooms". Ein Freund habe immer so gutes Zeug, aber er nenne nie seine Quellen. Das ärgere sie. Drogen sind nicht nur hier ein Problem. Vor drei Jahren auf dem Land kurz vor der ukrainischen Grenze empfand ich es ähnlich. Auch der Mann der Schwester eines Bekannten sitzt seit ein paar Monaten im Knast, weil er mit Drogen gehandelt haben soll. Eine weitere Bekannte hat sich sogar verschuldet, um ihrem Freund eine große Menge Geld zu leihen, bis herauskam, dass der Freund drogensüchtig war und keine Kopeke zurückzahlen konnte.





Als ich sie nach ihrem Vater frage, erzählt sie ihre Geschichte: Den echten Vater kenne sie nicht, er hat ihre Mutter geschwängert, dann ist die Mutter, nichtwissend, dass sie schwanger war, auf den Pazifik gefahren, um zu arbeiten. Und später bekam sie das Kind, der Vater war aber wer-weiß-wo und hat bestritten, dass er der Vater sei. Dank irgendeinem Schmiergeld wurde dann der Name eines fiktiven Vaters in die Geburtsurkunde eingetragen, der Name eines Mannes, den es gar nicht gibt. Ironischerweise hat man ihm auch noch den Nachnamen der Mutter gegeben, vielleicht, damit es so aussieht, als sei das Kind ehelich geboren worden.

Die Mutter fand später einen neuen Mann. Mit dem entstand dann vier Jahre später der Bruder. Bis zur Geburt des Bruders hatte die Mutter bei einem Fischereibetrieb gearbeitet, für den sie oft monatelang zur See fuhr. Tochter Kristina hatte derweil meistens bei der Oma gewohnt, in einem großzügig angelegten Wohnblock mit einem anscheinend wichtigen Opa. "Bis dahin war alles gut. Bei der Oma hat es mir gut gefallen", sagt meine Gastgeberin.

Doch die Mutter entschied dann, zu Hause mit dem Bruder zu bleiben und konnte nicht mehr arbeiten, sie kam wieder zur Mutter, und bald stellte sich heraus, dass der Stiefvater mit seinen Aggressionen nicht haushalten konnte. Er begann, die Mutter zu schlagen, bis Blut floss. Meine Gastgeberin erinnere sich noch gut an das Blut auf dem Teppich. Sie hätten bei der Polizei angerufen, der Opa hätte als Polizeihauptwachtmeister ja einschreiten können. "Er hätte meinen Stiefvater ins Gefängnis setzen sollen!" Man habe sich bei der Polizei alles angehört und sehr bedauert, passiert sei aber nichts. Irgendwann dann kam die Scheidung, seither lebt die Tochter mit Bruder bei der alleinerziehenden Mutter, bis der Bruder zuletzt Soldat wurde und auszog.

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